Glücksmomente in Vietnam

Wie viele hatten uns gewarnt, in dieser Zeit, wo in China das Virus ausbricht, ausgerechnet nach Asien zu fliegen! Die Aussagen des Auswärtigen Amtes gaben jedoch keinerlei Anlass zu einer Reisewarnung und so machten wir uns Mitte Februar 2020 auf den Weg.

Tatsächlich gab uns der wuselige Alltag in Vietnam auch wenig Grund zur Sorge. Wie in Asien üblich, trug hier fast jeder eine Gesichtsmaske – ein Anblick, der uns früher einmal fremd vorkam und mittlerweile auch in unserem Straßenbild beinahe schon vertraut erscheint. Außerdem waren die Grenzen zu China dicht und sämtliche Schulen und Universitäten hatten geschlossen.

Offenbar zeigten die frühen Maßnahmen der Regierung Wirkung. Während in Deutschland die Zahl der Infizierten schnell stieg, blieb sie in Vietnam lange Zeit verschwindend gering. So konnten wir relativ sorglos unseren Patenkindern und deren Familien begegnen, wie auch zwei Krankenhäusern und einem Kinderheim einen Besuch abstatten. Auch in diesem Jahr gab es berührende Erlebnisse, die keiner von uns vergessen wird.

So auch im Mekongdelta, wo wir uns in Can Tho mit einer Familie treffen, die wir seit zwei Jahren mit unserem Patenprogramm unterstützen. Vater, Mutter und zwei Kinder wohnen in einer Wellblechhütte, etwa 12 qm groß. Die dünnen Matratzen sind an die Wand gelehnt, so dass der winzige Platz zwischen Kocher und Kleiderstange wenigstens tagsüber begehbar ist. Wo die Einnahmen der Eltern durch Kutterfahrten und Gelegenheitsarbeiten gerade zum Überleben ausreichen, fließen uns Freundlichkeit und Dankbarkeit über die zuverlässige Unterstützung entgegen.

Da das Mädchen, mittlerweile 16 Jahre alt, die Schulausbildung erfolgreich abgeschlossen hat, kann das Geld, das wir monatlich aus Deutschland überweisen, als Schulgeld für den siebenjährigen Bruder genutzt werden. Wir sehen, dass hier jeder Cent gut ankommt.

Als die Mutter von einer großzügigen Spende eines Freundes aus Deutschland erfährt, weint sie vor Glück. Das Geld wird ausreichen, um statt Wellblech Mauern aus Steinen zu errichten, die vielleicht sogar eine Zwischendecke in dem kleinen Haus ermöglichen. Außerdem können sie nun direkt hinter dem Haus ein kleines Grundstück erwerben, um zwei weitere Zimmer anzubauen.

Der Vater weist uns auf eine andere Familie hin, die dringend unsere Hilfe benötigt. Ein etwa sechzigjähriges Ehepaar hat vor einem halben Jahr seine beiden Enkelkinder aufgenommen, da der Schwiegersohn und die  Tochter kurz hintereinander an Lungenkrebs verstorben waren. Beide arbeiteten in einer Dachziegelfabrik. Nun leben Großeltern mit ihren Enkeln gemeinsam auf engstem Raum in einer Art Pfahlbau am Rande des Mekong.

Der fünfjährige Junge und selbst das dreijährige Mädchen haben im Gegensatz zu uns keinerlei Probleme in die Holzhütte zu klettern. Mir macht es schon etwas aus, über ein Brett zu balancieren, dann eine selbstgebaute Holzleiter herunterzusteigen, um den Menschen hier ein wenig näher zu kommen. Die Freude der Kinder über unsere mitgebrachten Kuscheltiere ist groß, noch größer aber ist die Erleichterung der Großeltern, als sie erfahren, dass wir sie in unser Patenprogramm aufnehmen werden.

Im Krankenhaus von Hue haben wir auch diesmal Zugang zur Kinderkardiologie. Mütter, manchmal auch Väter oder Großmütter sitzen voller Hoffnung auf den Betten der Kinder, bei denen eine Herzoperation nicht mehr aufzuschieben ist. Bei den meisten von ihnen hat sich jedoch noch keine Möglichkeit der Finanzierung ergeben. Es tut weh nicht allen, die hier warten, grünes Licht zu geben, denn nach unserem Kennenlernen müssen wir uns erst absprechen, welchen Eingriff die Friedenskinder übernehmen können. Zum Glück haben wir gerade in letzter Zeit einige Spenden bekommen, die uns einen gewissen finanziellen Spielraum lassen. So können  wir mit der Erfahrung unserer Angestellten Thuan und unseren eigenen Beobachtungen kurzfristig sechs Zusagen geben. Glückliche, erlösende Momente.

Am meisten bewegt uns die Geschichte des fünf Monate alten Suong, der gerade von seiner Mutter gestillt wird. Unter Tränen erzählt sie uns, dass selbst ein amerikanischer Herzspezialist, der kurz zuvor in der Klinik war, eine Operation ablehnen musste. Ihr kleiner Sohn habe Heterotaxie, eine Beeinträchtigung, bei der Organe im Brustkorb und Bauchraum vertauscht sind. Der Befund gibt wenig Hoffnung auf das Gelingen eines Eingriffes. Außerdem besteht die Gefahr, dass nach kurzer Zeit Komplikationen auftreten könnten. Da sich das Ärzteteam nicht mehr lange in Vietnam aufhalte und sich ein Abreisetermin wegen der viele Formalitäten nicht verschieben lasse, könne man keine Hilfe zusagen.

Trost und ein Kuscheltier von uns kommen an, doch gibt es mehr zu erreichen? Zunächst nehmen wir die traurigen Eindrücke mit auf unsere weitere Reise.  Sie prägen unsere Gespräche und Gedanken …

In Nam Dong, einem kleinen Ort in den Bergen, besuchen wir Pfarrer Hien, der seit vielen Jahren sieben Gemeinden nicht nur seelisch beisteht. Bei ihm treffen wir unser erstes Patenkind wieder. Na war ohne den tödlich verunglückten Vater aufgewachsen und lebte mit ihrer Mutter, einer fleißigen Plantagenarbeiterin, in einer armseligen Hütte. Über eine Patenschaft der Friedenskinder konnte das Schulgeld bezahlt werden, und Na wurde selbst auf dem Gymnasium zu einer der besten Schülerinnen.

Problematischer als auf dem Land erscheint ein Stadtviertel von Hue, direkt am Parfümfluss gelegen. Hier lebt eine weitere Familie, die wir bereits unterstützen. Mutter und Kinder sind seit unserem letzten Besuch zwar besser ernährt und alle sehen gesünder aus, doch der Schulbesuch der beiden älteren Mädchen ist jetzt, in der Zeit von Corona, nicht möglich. Da kein Unterricht stattfindet, bleiben die beiden zuhause oder gehen unregelmäßigen Beschäftigungen nach, um ein wenig Geld zu verdienen. Während der Vater, geschafft von der Nachtarbeit, noch fest schläft, freuen sich die Kinder und alle Nachbarn über unsere kleinen Geschenke. Hier leben die Ärmsten der Armen. Die Not ist offensichtlich, vor allem bei den alten Menschen.

Aufmunterung erleben wir bei unseren nächsten Besuchen von Patenkindern. Das Mädchen Bao lernt mittlerweile Englisch und entwickelt sich zu einer guten Schülerin. Ihre Herzoperation vor zwei Jahren hat sie ganz vergessen. Ihr Vater ist mit seinem Mopedtaxi unterwegs, die Mutter muss aufgrund eines Unfalls noch zuhause bleiben. Bao ist nicht mehr so dünn wie früher, ist groß geworden, und sie erzählt uns, dass sie einmal Lehrerin werden möchte. Glücksmoment.

Auch bei Duong Thai, der mit seiner Mutter und der Großmutter zusammenlebt, haben wir nur Grund zur Freude. Immer noch ist er Schulbester und zeigt uns stolz seinen kleinen Schreibtisch, die sorgfältig geführten Hefte und das letzte Zeugnis. Arzt will er werden, immer noch, damit er später einmal seine Mutter und die heute neunzijährige Großmutter versorgen kann. Irgendwie sind wir alle sicher, dass er das schaffen wird. Glücksmoment.

Im Kinderheim von Kim Doi werden wir wie alte Freunde empfangen. Nur leider sind die Kinder zwangsweise auf ihre Herkunftsfamilien verteilt. Ob es dort in Coronazeiten noch das gleiche gute Essen gibt wie im Heim? Schließlich sind alle hier aufgenommen, weil die Familien nicht genügend Einkommen haben, um sie zu ernähren und das Schulgeld zu bezahlen. Vielleicht ist es besser, nicht auf alle Fragen eine Antwort zu bekommen.

Zurück in Ho-Chi-Minh-City besuchen wir das zweitgrößte Krankenhaus der Stadt. Hier haben wir einen Termin mit Dr. Thanh und seiner Operationsassistentin Mai, die gerade sieben Stunden erfolgreich operiert haben, um eines unserer Kinder am Leben zu halten. Mai hat uns Früchte aus ihrem Garten mitgebracht und Dr. Thanh erklärt uns an einer Tafel, wo die besonderen Schwierigkeiten der gerade vollendeten Operation bestanden. Wir sind beeindruckt. Als wir ihm von Suong erzählen, dem kleinen Jungen aus dem Hospital von Hue, verspricht er, sich die Krankenakte anzusehen und uns Bescheid zu geben, ob er helfen könnte.

Mittlerweile sind fünf Wochen vergangen. Wir sind längst zurück in Deutschland und haben uns alle noch nicht angesteckt. Die größte Freude, die wir zurzeit haben, sind die Berichte aus Ho-Chi-Minh-City. Unsere Mitarbeiterin Thuan hatte Dr. Thanh die Akten des kleinen Suong geschickt. Nach sorgfältigem Studium der Unterlagen erklärte er sich bereit, so schnell wie möglich zu operieren, da der Kleine nicht mehr viel Zeit habe. Thuan holte Suong und seine Mutter zwei Tage später aus dem Heimatdorf ab und fuhr mit ihnen mit dem Nachtzug in den Süden. Zunächst hatte der Kleine ein wenig Fieber. Vier Tage später, am 31. März, wurde die mehr als sechsstündige Operation erfolgreich durchgeführt.

Thuan und Dr. Thanh versorgen uns täglich mit den neusten Informationen. Zunächst konnte die Beatmung eingestellt werden. Die Mutter durfte ihr Baby eine Woche lang nicht sehen, da sie wegen der Corona-Regelungen keinen Zutritt zur Intensivstation hatte. Ein Foto zeigt sie, wie sie ihren Sohn nun zum ersten Mal wieder im Arm hält. Riesenglücksmoment – auch in Deutschland. Der kleine Suong ist noch nicht über den Berg. Eine, vielleicht auch zwei Operationen hat er noch vor sich, die nächste schon im kommenden Jahr.

 

 

Wie gut, wie unglaublich gut, dass es überall Menschen gibt, die nicht zuerst an sich denken, sondern spenden, arbeiten, sich einsetzen für das Wohl von Kindern, für deren Gesundheit und Ausbildung, für eine etwas bessere Welt, egal in welchem Land. Ein Lichtblick auch in diesen schwierigen Zeiten.

Hartmut Hoefs